Abschiede nimmt man von Menschen, Projekte finden Abschlüsse. Abschied macht, dass es weitergeht. Weshalb ist das heutzutage wichtig?
Ohne Ende kein Beginn
Im Follow-Up zu einem Coachingprozess treffe ich eine Führungskraft wieder, die ihr kleines Unternehmen mit zwei Mitarbeitenden führt und nebenher ihr Familienleben managt. Sie kam ins Coaching, weil die vierköpfige Familie eine gefühlte Enge in ihrem Haus erlebt, was der Auslöser für verschiedenen Stressmomente ist. Der wirkt sich auf ihr Unternehmen aus. Sie fragte sich, wie sie ein Projekt, was zu Hause zusätzliche Freiräume schaffen würde, neben ihrem Unternehmen und zwei Kindern überhaupt stemmen soll. Sie berichtet nun, dass sie das Projekt zwischenzeitlich angegangen hat, zurzeit stagniert der Fortschritt.
So wie dieser Führungskraft geht es immer wieder Menschen, die mir begegnen. Sie finden kein Ende für ein bewusst angegangenes Projekt sei es im privaten oder beruflichen Kontext. Auch bei mir selbst kann ich dieses Phänomen immer wieder beobachten. Bevor wir etwas bewusst abgeschossen haben, zieht es uns schon zum nächsten hin. Das kann funktionieren. Oder Ressourcen beanspruchen, die dann später fehlen.
Zeigarnik-Effekt
Eine mögliche Erklärung dafür, dass wir offene Vorgänge bewusst oder unbewusst im Gedächtnis behalten, ist der Zeigarnik-Effekt. Die Psychologin Bluma Zeigarnik beobachtete der Erzählung nach in Berlin Kellner dabei, wie sie Bestellungen verschiedener Tische mit mehreren Personen im Gedächtnis behielten, bis sie die Rechnung rausgelassen hatten. Danach wussten die sie nicht mehr, was die einzelnen Tische bestellt hatten. In ihren Studien in den 1920er Jahren bei Kurt Lewin kam Zeigarnik zu dem Ergebnis, dass unerledigte Aufgaben eher im Gedächtnis bleiben als erledigte.
Die Ergebnisse konnten in nachfolgenden Studien nicht immer reproduziert, aber auch nicht widerlegt werden. Kennen Sie das Cliffhanger-Phänomen aus ihrer Lieblings-TV-Serie? Das ist auf diesen Effekt zurückzuführen. Einiges spricht in der Forschung dafür, dass weitere, bisher unerforschte Faktoren eine Rolle spielen, wie zum Beispiel welche Bedeutung, die Aufgabe für die Ausführende hat.
Parallele Veränderungsdynamik
Führungskräfte erlebe ich heute so, dass sie in vielen Veränderungsprozessen parallel stecken. Sie sind Motor von solchen Prozessen, Vermittler gegenüber Mitarbeitenden, werden selbst erfasst und mitgezogen, sind Menschen, auf die mehr als die Arbeit einwirkt. Da kann es hilfreich sein, eine stimmige Haltung für sich selbst zu entwickeln.
An der Zielgestaltung arbeiten
Im Follow-Up hat die Coachee an ihrer Erwartung gearbeitet. Das heißt, sie hat festgestellt, dass die vorher dreiviertelsfertige Lösung funktionsfähig ist und vorläufig ihren Zweck erfüllt. Damit hat sie ihre Zielerwartung korrigiert. Diese Sichtweise wird sie in ihrer Familie besprechen.
Nicht immer sind Führungskräfte in der Lage, die Ziele aktiv zu gestalten, manche sind vorgegeben. Jedoch kann es lohnen über Erwartung an Ziele und auch an deren Umsetzung zu sprechen. Mit sich selbst, mit den Beteiligten.
Achtsam würdigen
Wenn wir uns von einer Person verabschieden, zum Beispiel der ausscheidenden Kollegin, die Rente geht, dann blicken wir gerne zurück. Welche bedeutsamen Erlebnisse gab es in der Zusammenarbeit für mich, welche für das Gegenüber? Von welchen Emotionen ist der Abschied begleitet?
Abschied macht, dass es weitergeht
Auch auf einem Weg, der noch weit ist und das Ziel nicht in Sicht, kann es sinnvoll sein zurückblicken. In Teams lassen sich gemeinsame Rituale finden, Bilanzierungsrunden etablieren – oder vielleicht einfach bewusste ruhige Momente, in denen die achtsame Würdigung von etwas Gewesenem möglich ist.
Ich wünsche mir heute mehr davon, denn das schafft Platz für Neues. Und Sie?
Adieu
Felix Pritschow